Christian Genetelli: Un’inedita e ignota recensione di Giacomo Leopardi («L’ombra di Dante»)
Milano: LED Edizioni, 2019, Euro 20,00.
ISBN 978-88-7916-918-9

• Franca Janowski •


PID: https://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-EA9D-1

Auf dem inzwischen unübersichtlichen Gebiet der Leopardi-Forschung könnte die Besprechung einer Neuerscheinung schwierig zu begründen sein. In unserem Fall erzeugt der Titel Un’ inedita e ignota recensione di Giacomo Leopardi und gewiss auch die Bekanntheit des Rezensenten Neugierde. Kann eine Besprechung Leopardis überhaupt unveröffentlicht und unbekannt sein? Besonders delikat ist: In diesem Fall handelt es sich um die Rezension einer Rezension, deren Autor Giacomo Leopardi ist. Eine weitere Frage stellt sich: Hat Leopardi überhaupt Werke «rezensiert»? Natürlich findet sich im Zibaldone eine beeindruckende Fülle von tiefgreifenden Urteilen über Autoren sowohl aus der Antike als auch aus dem zeitgenössischen Umfeld. Die Korrespondenz mit Pietro Giordani und dem Verleger Stella informiert über die literarischen Projekte, die Leopardi beschäftigten, sowie über das Interesse, seine vor allem philologischen Arbeiten im Spettatore und auch in der Biblioteca Italiana zu veröffentlichen. Aber eine Andeutung im Hinblick auf Rezensionen im modernen Sinn scheint in Leopardis Überlegungen erst im Jahr 1832 eindeutig nachweisbar. In einem «Preambolo» zum Projekt einer neuen Zeitschrift, Lo Spettatore Fiorentino, spricht er von der Intention, darin auch «pareri intorno ai libri nuovi» und zwar «senza adulazioni» aufzunehmen1.

Unsere Rezension stammt aus dem Jahr 1816 und erscheint nicht im «Indice» der Werke, die Leopardi selbst 1816 dort verzeichnete und wo er akribisch notierte, ob sie zur Veröffentlichung bestimmt seien oder nicht.2 Der achtzehnjährige Autor hatte bereits eine beträchtliche Anzahl an Arbeiten verfasst, allerdings wenige davon veröffentlicht. Die kurze Rezension in bella copia und, wie es scheint, fertig zur Veröffentlichung taucht aber nirgendwo auf und ist von Genetelli in den Carte napoletane wiederentdeckt worden. Es ist wahrscheinlich, dass Leopardi den Text als eine Art Notiz für seinen ‹idealen Zettelkasten› betrachtete. Diese Vermutung mindert m. E. aber keineswegs die Bedeutung der «recensione». Leopardis Text ist überaus kurz, seine Absicht besteht darin, einen «libricciuolo» der Vergessenheit zu entreißen – wohl nach dem Motto in Johannes (6, 12) colligite fragmenta ne pereant. Die literarische Strategie des jungen Rezensenten ist überraschend und bemerkenswert: Er gibt die schönsten Sequenzen, «i più bei passi», wieder und überlässt den Lesern das Urteil über deren Qualität. Vorausgegangen ist eine bissige Bemerkung des in Urbino geborenen Giuliano Anniballi über den Erscheinungsort, Loreto, des in Urbino geborenen Giuliano Anniballi: Dort sei man gewöhnt, Geist und literarische Werke so wenig zu beachten wie in Mekka.

Wir verdanken Genetelli eine akribische Forschung über diesen fast unbekannten Autor. Im Anhang ist das Faksimile von Anniballis Ausgabe von 1816 abgedruckt.

Leopardi kannte Anniballi (1789–1864), einen frommen und gelehrten Pädagogen und späteren Professor auf der Cattedra di Retorica des Ginnasio comunale von Rimini persönlich nicht. Wohl aber war der dedicatario des Büchleins, Don Sebastiano Sanchini, mit der famiglia Leopardi verbunden. Warum liest und rezensiert Leopardi L’ombra di Dante. Visione del Signor Giuliano Anniballi […], und warum ist die Entdeckung in den Carte napoletane von Belang? Hier einige Gründe:

I. Die Rezension trägt zum Verständnis von Leopardis cantica Appressamento della morte3 bei. Was die Datierung der Besprechung anbelangt, befindet man sich in einer Art Zirkel, denn lediglich die Lektüre des Textes Anniballis, welcher, wie Genetelli überzeugend belegt, viele stilistische und strukturelle Ähnlichkeiten mit der cantica aufweist, deuten auf das Jahr 1816 hin. Leopardi erwähnt nur, wie kurzlebig die 1816 erschienene Visione sein wird: «il vento e i pizzicagnoli disperderanno questa poesia prima che alcun letterato l’abbia veduta»4. Das Kompositionsdatum des Appressamento ist nach Leopardis Aussage November–Dezember 1816. Vermutlich ist die Rezension kurz davor entstanden. Wie Genetelli anhand der Textvergleiche überzeugend zeigt, ist es möglich, dass Leopardis cantica nicht nur eine Orientierungsmarke für die Datierung der Rezension ist, sondern die Motivation für deren Entstehung liefert. An einer Veröffentlichung war der Autor danach vermutlich nicht mehr interessiert.

II. Die Rezension wurde 1816 geschrieben, ein Schicksalsjahr für den jungen Leopardi, denn es ist das Jahr der conversione letteraria, eines Ereignisses, das eine Brücke zwischen Übersetzung und Poesie spannt. In dieser Zeit schrieb er die Lettera ai Sigg. compilatori della Biblioteca Italiana in risposta a quella di Mad. la baronessa di Staël Holstein ai medesimi aber auch den Inno a Nettuno. Bekanntlich verfasst der junge Leopardi diesen gelehrten Hymnus in der Art der alexandrinischen Dichtung und veröffentlicht ihn im Spettatore als die Übersetzung eines eben wiederentdeckten Gedichts: «Dovecché i traduttori si studiano di parer originali, io doveva essendo originale studiarmi di parer traduttore».5

Sein Bedürfnis nach eigenem Schreiben entsteht aus der Kunst der Übertragung; hier wurzelt sein imitazione-Konzept. Leopardis überaus treue Übersetzungen klassischer Autoren haben nicht primär den Zweck, seinen Stil zu formen oder zu bereichern, vielmehr werden die fremden Texte Teil seines kreativen Geistes, so als wolle er sich in einem osmotischen Prozess die Natur des Genies einverleiben:

Perché quando ho letto qualche classico, la mia mente tumultua e si confonde. Allora prendo a tradurre il meglio, e quelle bellezze […] piglian posto nella mia mente, e l’arricchiscono e mi lasciano in pace.6

III. Stellte Leopardis Interesse für den ‹Mythos Dante› den Grund dar, der ihn veranlasste, das schmale Werk L’ombra di Dante. Visione del Signor Giuliano Anniballi […], zu lesen, oder verhält es sich vielmehr umgekehrt? Gewiss mussten Titel und Thematik Leopardi, der sich in einer Zeit der intensiven Arbeit an seiner Poetik befand, angezogen haben.7 Drei Lexeme mögen der Orientierung dienen: «visione», «ombra» und «Dante».

Die Gattung der visione – die ihr Vorbild in Dantes Jenseitsreise hat – erfreute sich in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts vor allem dank Alfonso Varanos Visioni sacre e morali und Vincenzo Montis Opus’ einer Renaissance. Leopardis cantica Appressamento ist von Dantes Motiven durchdrungen, übernimmt aber das allegorische Schema von den beiden Autoren Varano und Monti.

«Vedi‚ ’l magno Alighier che sopra l’etra/Ricordasi ch’ascese un’altra volta,/E del dir vostro pose la gran petra»8: Dante, dessen mächtiger Schatten sowohl auf dem Gesang Leopardis als auch auf dem Anniballis lastet, jedoch in unterschiedlicher Weise. In beiden Gedichten ist der Tod, als Allegorie oder als Ankündigung, das Grundereignis der visione. Anniballi erkürt sich Dante zum Führer, der ihn durch die drei Reiche begleiten soll. Man ahnt, dass die geheimnisvolle Stimme, die ihn am Anfang des Gedichts anspornt: «Scrivi!», die Stimme des divino poeta ist. Die Subjektivität ist zurückgedrängt.

Im Appressamento ist der Schutzengel der Begleiter und Verkünder der «ammiranda visione». Er ermahnt das von der Nachricht des nahen Todes verängstigte Ich: «E poi soggiunse: mira, ed i’ mirai»9. Dante als Figur erscheint im IV. Gesang unter den Seligen neben anderen Dichtern. Der V. Gesang enthält ein Bekenntnis, eine lyrische Klage über einen Tod, der jede Hoffnung auf Ruhm vernichtet.

Leopardi, überzeugt von der Überlegenheit der griechischen und lateinischen Tradition, deren Erbe die italienische Literatur angetreten hat, will diese gegen den Angriff der Moderne verteidigen. Denn nur die Nachahmung der Antike ermöglicht ein Zurück zur Natur sowie die Entstehung der Poesie. Zu dieser memoria dell’antico gehört auch Dante als archaisches Genie der italienischen Nation. Interessanterweise hatte Leopardi, wie er in seinen «Postille alla cantica» notiert, bis zu dieser Zeit Dante nur ein einziges Mal gelesen.10

Wir kennen die komplexe Strategie der ‹nascondimenti leopardiani› in den Canti. Die Wirkung der Commedia im Appressamento ist inhaltlich sehr stark, wie etwa die Erzählung von Ugo und Parisina als Nachahmung der Episode von Paolo und Francesca aus dem V. Gesang zeigt. Auch der religiöse Geist des Florentiners ist noch bestimmend. Dante aber ist für Leopardi noch nicht der Schatten, der die bloomische Einflußangst einflössen kann. Im Jugendgedicht ist die überaus feinfühlige Verwendung der memoria letteraria, die die Canti prägt, noch nicht zu spüren; der alchemistische Prozess, der fremde Elemente in Gold verwandelt, ist noch nicht vollzogen.

Der bereits philologisch gründlich erforschten Problematik der Intertextualität im Werk Leopardis kann die Rezension ein neues Element zur Verdeutlichung der Präsenz Dantes bei Leopardi hinzufügen. Angesichts der stupenden Gelehrsamkeit des jungen Dichters aus Recanati, auf dem Weg seinen unverwechselbaren poetischen Stil zu entwickeln, hat vielleicht auch Anniballi mit seinem von Dantismen überladenen Gesang Anregungen geboten. Hier liegt nach meiner Einschätzung die Bedeutung der Entdeckung dieses kleinen Schatzes durch Christian Genetelli.

  1. In: «Prefazioni, manifesti, appunti [1825–1836], Lo Spettatore Fiorentino Giornale di una settimana» in: Giacomo Leopardi, Tutte le poesie e tutte le prose, a cura di L. Felici e E. Trevi, Roma: Newton Compton Editori 2007, cit., S. 1032.
  2. Unter dem Jahr 1816 werden seine Werke so sortiert: «pubblicate, sotto il torchio, da pubblicarsi a momenti, da pubblicarsi fra poco, pronte per la stampa ma riprovate dall’autore, in stato da stamparsi quando si voglia, pronte per la stampa ma non pubblicate, da terminarsi, riprovate assolutamente dall’autore, da bruciarsi senz’altro, composte dopo il 16 novembre da stamparsi tra poco» ( Giacomo Leopardi, Tutte le poesie e tutte le prose, cit. S. 1038f.).
  3. Christian Genetelli verdanken wir eine wertvolle Einführung und Kommentierung der kritischen Ausgabe des Gedichts: Giacomo Leopardi, Appressamento della morte. Edizione critica a cura di S. Delcò-Toschini e C. Genetelli, Roma-Padova: Editrice Antenore 2002.
  4. Christian Genetelli, Un’inedita e ignota recensione di Giacomo Leopardi («L’ombra di Dante»), Milano: LED Edizioni 2019, S. 9.
  5. «Annotazione all’Inno di Nettuno» in: Giacomo Leopardi, Tutte le poesie, cit., S. 287.
  6. Brief an Giordani, 21 marzo 1817, in: Giacomo Leopardi, Epistolario in: Tutte le opere a cura di W. Binni e E. Ghidetti, Firenze: Sansoni 1983, S. 1020.
  7. Das Gedicht von Anniballi besteht aus 292 Versen in terzine dantesche. Leopardis Rezension wählt 53 davon aus. Leopardis Appressamento della morte, im selben Metrum verfasst, umfasst fünf Gesänge und ist 878 Verse lang.
  8. Giacomo Leopardi, Appressamento della morte, IV, 130–133 in: Edizione critica a cura di Delcò-Toschini e Genetelli, cit., S. 85.
  9. Ibid., I, 123, S. 21.
  10. «Postille alla Cantica» in: G. Leopardi, Tutte le poesie, cit., S.300.