· Ursula Reuter-Mayring ·
PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0002-44A7-5
«La causa prima fu che sono snob», so setzt Clara Sereni ein mit ihrer Chronik der Jahre von 1968 bis 1977. In Rom macht sie sich 1968 auf die Suche nach einer ersten eigenen Wohnung. Die Beschreibung ihrer Einstellung dabei ist schon genauso knapp und treffsicher, so kritisch und aufrichtig wie es die Chronistin auf den knapp 200 folgenden Seiten auch weiter halten wird bei der Schilderung dieses persönlichen Lebensabschnitts und jener Zeit so grundlegender Bewegungen in Italien. Die Kriterien der Achtzehnjährigen, was Lage und Preis aber auch den gewünschten Zauber der Wohnung betrifft, mochten damals wohl als snobistische Anmaßung gelten, denn in den Augen der Gesellschaft drückten sie aus, dass die junge Frau einen anderen als den ihr zugewiesenen, vordefinierten Ort im sozialen Gefüge zu beziehen gedachte. Wie viele ihrer Generation und ganz besonders die Frauen ‹maßte› sich Clara Sereni in jenen Jahren ‹an›, sich von Zwängen und Erwartungen zu befreien. Und bis heute besteht sie auf einer «snobistischen» Haltung. Auf die Frage in einem Interview im März 2015: «Dice che era ed è snob: in che cosa si manifesta questo atteggiamento?» antwortete sie: «[...] distanziarsi sempre un poʼ da quel che accade, non confondersi con la massa»1.
Vielfältige emanzipatorische Veränderungen in der italienischen Gesellschaft wurden damals auf den Weg gebracht: In die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts fielen nach langen Auseinandersetzungen so wichtige Gesetzesentscheidungen wie das Ehescheidungs- und Mutterschutzgesetz, die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung, die Absenkung der Volljährigkeit auf 18 Jahre oder die auf Franco Basaglias in Triest erprobter offener Psychiatrie, der psichiatria democratica, basierenden Reformen. Es waren die Jahre, in denen der neue italienische Film und Dario Fos Inszenierungen Kinosäle und Theater verließen und zu ihrem Publikum hingingen und in denen sich die italienische Frauenbewegung zu bilden begann. Und so ist auch Clara Serenis erster Satz eine emanzipatorische Geste: Sie beschreibt das eigene Heraustreten aus dem Schatten ihrer berühmten politisch-intellektuellen Familie. Ihr Vater, Emilio Sereni, aus einer römischen, großbürgerlichen, jüdischen Familie stammend, ist eine Ikone der italienischen Linken, ein polyglotter Gelehrter, Kommunist und Antifaschist, Parteivorsitzender, Abgeordneter, Senator und Minister in zwei der De-Gasperi-Regierungen, ihre Mutter, Xenia Silberberg, ist die Tochter zweier russischer sozialistischer Revolutionäre – die Tochter Clara ein «snob»? In dem Begriff schwingen die Facetten vom gesuchten und zu erprobenden eigenen Maß jenseits be-herrschender Normen ebenso wie die einer jugendlichen Anmaßung mit. Sicher und stimmig gibt Clara Sereni so den distanziert-ironischen und doch stets empathisch-solidarischen Ton vor, in dem sie erzählt: von der schwierigen Loslösung der Jungen jener Zeit, von ihren mächtigen und quasi unantastbaren Vätern der politischen Linken im Nachkriegsitalien, deren durch Widerstand und Verfolgung begründete Autorität unbestreitbar war und die dennoch allmählich erstarrten in Ritualen, die geprägt waren vom Marxismus-Leninismus, von der Anlehnung an die russisch stalinistische Politik und von den theoretischen Auseinandersetzungen über beides. Clara Sereni verrät in ihrem resoconto diese Väter (und Mütter) nicht, aber sie beschreibt unprätentiös und aufrichtig, dabei liebevoll und sensibel, nicht zuletzt sich selbst gegenüber, die Suche nach anderen, neuen Wegen:
Le loro ragioni contribuivano alle mie per insistere, volevo una vita quanto possibile diversa dalla loro. […] Che io cantassi aveva contributo a esacerbare i contrasti con mio padre, che investivano ogni e qualsiasi aspetto della mia vita: la politica innanzitutto, con la mia scelta di non iscrivermi al Pci e invece restare cane sciolto, più interessata al nuovo che si intuiva anziché alla ferrea tradizione famigliare: e poi abbigliamento e trucco, metodo di studio, il modo in cui coltivavo un mio piccolo orto, gli amori, il cibo, gli orari in cui rientravo a casa. Non ero in grado di tenergli testa, per le sue capacità dialettiche, per i suoi saperi che mi schiacciavano, per il rispetto-paura che mi incuteva. Solo una volta riuscii a dirgli, e parlavamo di morale, che lui era certo più forte e ferrato nelle argomentazioni, ma io non ero d’accordo lo stesso. Mi lasciò andare con uno strano sorriso, appena accennato: magari aveva ottenuto quel che voleva – tirarmi fuori il coraggio –, o forse si era solo stancato di critiche dalla scala cromatica noiosamente ridotta.2
«Soldi pochi, ricerche lunghissime […] continuai a cercare, senza rassegnazione», so findet Clara Sereni ihre Wohnung in der Via Ripetta 155, mitten in Rom, «tutto a cinque minuti a piedi da piazza Navona dove tutto succedeva, ci si incontrava si discuteva si cantava»3. Im Interview mit Marzia Nicolini beschreibt Clara Sereni, was ihr diese Wohnung noch heute bedeutet: «[...] torna ancora adesso nei miei sogni e incubi, come immagine di libertà e insieme di rischio.»4 Von dort aus, wo es zunächst weder Heizung noch heißes Wasser, weder Strom noch Herd gibt, geht sie ihre eigenen Wege ohne angesichts von Unzulänglichkeiten und Mühseligkeiten je aufzugeben. Sie arbeitet bis zur Erschöpfung bei magerem Verdienst als Sekretärin für die Vereinigung italienischer Cineasten, in den politisch engagierten Gruppen werden ihre Fertigkeiten im Maschineschreiben ausgiebig genutzt und nicht immer entlohnt. «Ma se c’era un’idea che proprio non mi passava per la testa – per la fame, per gli incontri, per tutto – è che qualcosa potesse andare storto.»5
Ihre Chronik erzählt, wie sie zum Gruppo del Nuovo Canzoniere Italiano stößt, und illustriert heutigen Lesern und Leserinnen welche Bedeutung die Neubelebung der Tradition des canto popolare sociale durch diese Gruppe hatte, die die Anliegen der jungen Linken anders darbot: «Ci ragiono e canto», so hießen die von Dario Fo organisierten Auftritte, bei denen traditionelle Protest-, Arbeiter- und Widerstandslieder aus allen Regionen Italiens ebenso wie neu komponierte gesungen wurden. Clara Sereni sang, sie suchte und schrieb Texte. Durch ihre Schilderung wird die Bedeutung des jungen italienischen Films in jener Zeit vor unseren Augen – noch einmal – ebenso lebendig wie die des engagierten Kampfes für die Rechte von Menschen mit psychischen Störungen. Ein Engagement, das Clara Sereni bis heute fortführt: 1998 gründeten sie und ihr Mann Stefano Rulli die Stiftung Città del sole, die von beiden weiterhin tätig unterstützt wird.
Sereni erzählt uns aber auch von ihrer individuellen Verfasstheit, die untrennbar mit den gesellschaftspolitischen Träumen, Erprobungen und Kämpfen dieses Lebensjahrzehnts verbunden ist. Es sind die Strapazen, so viele enttäuschte Hoffnungen und immer wieder die Schuldgefühle, nicht genug zu tun: Anlässlich der beendeten Friedensverhandlungen für Vietnam notiert sie im Jahr 1973
pensai che forse le raccolte di fondi e di medicinali potevano cominciare ad essere meno impegnative, forse avrei in casa qualche perseguito in meno da far dormire, per un pizzico di innamoramento o per forzata solidarietà. [...] Forse si poteva provare a vivere senza sentirsi perennemente in colpa per tutti i diseredati, gli oppressi, i bombardati.6
Hier klingt auch der intimste Bereich an, über den Clara Sereni schreibt – zart, ehrlich, empathisch und kritisch. Wohltuend ist, wie sicher sie auch dabei ihren eigenen Ton wählt, völlig fern jeder in der zeitgenössischen Literatur so verbreiteten Effekthascherei, wenn es darum geht, die ‹weibliche Gefühlswelt› in Sprache zu fassen. Durchgehend vermag es Sereni vielmehr in literarisch gelungenster Chronistenmanier die Realität jener Zeit samt ihrer theoretischen Diskurse und praktischen Alltäglichkeiten mit dem beides durchlebenden Subjekt, der jungen Frau, die die Autorin damals war, zusammenzuschließen und den Leserinnen und Lesern von heute eine authentische Darstellung davon zu geben. Die im Text niemals verleugnete Subjektivität geht dabei einher mit sanfter Distanz, die allein schon durch den Erinnerungscharakter konstituiert wird und sich manchmal auch als Ironie oder als Wertung zeigt, und ist gleichzeitig Ausdruck einer Solidarität sich selbst und dem eigenen gelebten Leben. Clara Sereni berichtet von der Zeit der Suche nach freien, herrschaftslosen und unbürgerlichen Beziehungen: Es gibt solche, die flüchtig und unverbindlich bleiben, und es gibt eine große und enttäuschte Liebe. Das Verlangen, ernst genommen, ja überhaupt wahrgenommen zu werden von all den engagierten Genossen, als Individuum, als Autorin und nicht nur als jemand, der Bett, Pasta und Zärtlichkeit, praktische und unerschrockene Hilfe sowie fabelhafte Schreibmaschinenkenntnisse bereitstellt, vernehmen wir in den Worten, mit denen Sereni diese Liebe, durchgehend «il grande amore» genannt, en passant beschreibt:
[...] lui sempre con la straordinaria capacità che aveva di entrare subito in contatto, di farti unica in quel momento, anche se era solo un momento. E ogni volta la stessa domanda, unʼapertura di credito che da nessun altro mi arrivava: «Cosa stai scrivendo?». Tentavo ancora la strada di soggetti e sceneggiature, e quella domanda mi faceva sentire ‹in diritto›, mi permetteva di convincermi che macchina da scrivere e ciclostile non sarebbero stati il mio unico e eterno orizzonte.7
Clara Sereni nahm sich dieses Recht und hatte schließlich als Autorin große Erfolge mit ihren Romanen, Erzählungen und Dokumentationen. Schon ihr erster Roman, Sigma Epsilon, erreichte die Bestenliste des Premio Viareggio 1975 für das beste Erstlingswerk; der vorliegende Band ist in der Auswahl der zwölf besten für den Premio Strega 2015. Weiter veröffentlichte sie Casalinghitudine (1987, 2005), Manicomio primavera (1989), Il gioco di regni (1993), Eppure (1995), Taccuini di un’ultimista (1998), Passami il sale (2002), Le Merendanze (2004), Il lupo mercante (2007), Una storia chiusa (2012). Zum Thema Diversität gab sie zudem Mi riguarda (1994), Si può! (1996) und Amore caro (2009) heraus. In deutscher Übersetzung liegt bis jetzt leider keines ihrer Werke vor. Es wäre hier ein anderes Italien als das der vielen beim deutschen Lesepublikum so beliebten commissari zu entdecken.
Mit dem Aufbruch Clara Serenis in die Paar-Beziehung mit Stefano Rulli –«volevamo essere una coppia nuova, legata dallʼamore e non dalle carte bollate» – endet schließlich diese Chronik eines persönlichen und politischen Lebensabschnittes. Die Lektüre lässt uns Leser und Leserinnen so viele der wichtigsten Ereignisse der italienischen Nachkriegsgesellschaft noch einmal, quasi ‹von innen›, mit-reflektieren und wir können erfahren, wie es war, als nicht nur die italienische Linke, sondern die ganze Gesellschaft erschüttert und verändert wurde, als die Jugend in Italien stets nur im ‹wir› dachte: «Perché nessuno si pensava da solo […] non c’era solo l’idea di poter essere diversi noi: c’era la convinzione che l’Italia potesse cambiare, anzi che fosse già cambiata, e che del mutamento fosse ora possibile cogliere i frutti.»8 Wer seine Leseeindrücke zu dieser Generation noch weitergehend ‹bebildern› möchte, dem sei der Film La meglio gioventù (2003, Regie: Marco Tullio Giordano) empfohlen, zu dem Stefano Rulli das Drehbuch schrieb. Und an alle Lesenden kann als Einladung gelten, angesichts aller eigener Lebens-Erfahrungen dennoch und gerade deswegen immer wieder aufs Neue aufzubrechen, «senza rassegnazione», so wie Clara Sereni 1968, als sie ihre Wohnungssuche begann, und 1977, als ihre Chronik der Via Ripetta 155 endet: «Tutto era pronto per un nuovo passo in avanti. Con tutte le speranze e utopie ancora – colpevolmente – intatte.»9
- Zit. n. Interview mit Marzia Nicolini, http://www.iodonna.it/personaggi/interviste/2015/clara-sereni-intervista-50284102076.shtml [Zugriff 16.03.2015]
- Clara Sereni, Via Ripetta 155. Firenze: Giunti Editore S. p. A. 2015 S. 8f.
- Ebd., S. 7
- Zit. n. Interview mit Marzia Nicolini, http://www.iodonna.it/personaggi/interviste/2015/clara-sereni-intervista-50284102076.shtml [Zugriff 16.03.2015]
- Sereni 2015, S. 20
- Ebd., S. 85
- Ebd., S. 85f.
- Zit. n. Interview mit Regina Santoro, http://www.cosebellemagazine.it/2015/06/10/speciale-premio-strega-clara-sereni-via-ripetta-155/ [Zugriff 31.08.2015]
- Sereni 2015, S. 197